Manchmal stolpert man im Netz unfreiwillig über Weisheiten, bei denen man an spontaner, befristeter Aphasie erkrankt. Man öffnet den Mund, will etwas zum Ausdruck bringen, doch es stellen sich nicht die rechten Worte ein. Dann schließt man den Mund wieder, etwas perplex angesichts dessen, was sich einem an Weisheit neu eröffnet hat. Und vielleicht auch etwas verstört.
Unlängst ist mir so etwas widerfahren. Aber dazu muss ich ein wenig ausholen. Zu meiner Erziehung gehörte auch ein bisschen Betriebs- und Volkswirtschaftslehre.
Arbeit im Sinne der Betriebswirtschaftslehre ist jede plan- und zweckmäßige Betätigung einer Arbeitsperson in körperlicher und geistiger Form, die dazu dient, Güter oder Dienstleistungen in einem Betrieb zu produzieren.
Wikipedia
Man hat also ein bestimmtes Verständnis von Arbeit entwickelt und hat dieses Verständnis seit einigen Jahrzehnten eigentlich auch ganz gut in der Auseinandersetzung mit der Realität für sich bestätigen können. Und dann liest man aus heiterem Himmel das:
Lassen wir mal fürs Erste rund 160.000 Menschen in Deutschland weg, die in Callcentern arbeiten vor klingelnden Telefonen sitzen. Vergessen wir bitte die Social-Media-Manager, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, ihre Arbeitgeber Brotherren in ein möglichst gutes Licht zu rücken (Bestes Beispiel dafür die 20 Mitarbeiter Beschäftigten der Berliner Verkehrsgesellschaft, der Angestellten der Werbeagenturen GUD und Jung von Matt, die rund um die @BVG_Kampagne tätig sind).
Und wir ignorieren mal für zwei Stunden alle eingehenden Mails (inklusive der mit fortschreitender Zeit sich im Tonfall verschärfenden Mails vom Typ „Ich erreiche über die Hotline niemanden!!! Wann wird mein Problem behoben!?“).
Reden wir auch nicht darüber, sich zusammenzusetzen um den nächsten Pitch zu planen, die Geschäftsstrategie zu erklären oder akute Probleme und Herausforderungen im Daily Business mit den Mitarbeitern zu besprechen, damit sie wissen, worauf sie achten müssen. Mitarbeiterführung, Wissensvermittlung, Diskurs und Konsenzbildung: Alles keine Arbeit!
Das lässt sich natürlich etwas schlanker zusammenfassen: Weniger Kommunikation betreiben, dann ist man schneller mit der Arbeit fertig. Kommunikation ist nämlich ein unverzichtbarer Erfolgsfaktor für Unternehmen mit mehr als einem Mitarbeiter ein für konzentriertes Arbeiten hinderliches Übel.
Und wir lernen aus diesem kurzen Tweet natürlich, dass Vollbeschäftigung mit Arbeit nichts zu tun hat.
Dabei ist unbestritten klar, dass das private Nutzen von WhatsApp, Instagram und Co. während der Arbeitszeit der Produktivität eines Unternehmens nur eingeschränkt förderlich ist und nicht zuletzt deshalb von vielen Arbeitgebern untersagt wird (Stichwort Arbeitszeitbetrug).
Aber über was für eine Auffassung von Arbeit wird hier geredet? Ist hier nicht implizit die Rede von einer Werktätigkeit als Arbeit?
Arbeiten an einem Werk: Für Michelangelo mag es beim Bearbeiten des David oder der Sixtinischen Kapelle genauso essenziell gewesen sein, sein Handy klingeln zu lassen wie für Ludwig van Beethoven beim Komponieren der Sinfonie in d-Moll oder für Molière beim Verfassen des Tartuffe.
Wer konzentriert kreativ an einem Werk arbeitet, bei dem Rahmen, Inhalt und spirituelle Idee feststehen, der kann auf Kommunikation bisweilen sicherlich verzichten (wenn man den Auftraggebern nicht ein wenig mehr Geld oder dem Verleger eine Verlängerung der Abgabefrist abringen muss).
Wie aber sieht es mit kommunikationsorientierten Berufen aus? Dem Dienstleistungssektor, der nachgerade davon lebt, dass man mit seinem Auftraggeber, seiner Zielgruppe, seinem Markt im beständigen Informationsaustausch ist? Dass man – bisweilen auch in Echtzeit – für ihn erreichbar ist? Die „mal off schalten“, „mal ausfallen lassen“, „mal klingeln lassen“-Perspektive legt hier die Axt an das Prinzip Dienstleistungsunternehmen.
Das macht schon ein wenig sprachlos über die da getätigte Aussage dessen, was Arbeit ist und was nicht. Gerade wenn jemand eine Expertenposition reklamiert und mit Nonchalance gleichzeitig Millionen von Arbeitnehmern in ihren Tätigkeiten delegitimiert.
Wenn Statista für das Jahr 2019 ermittelt, dass der Dienstleistungssektor 69,3% der Bruttowertschöpfung in Deutschland erwirtschaftet hat, dann wird eines deutlich: Wir bewegen uns längst in einer Gesellschaft, in der das Werk weniger wichtig ist als der Geschäftsvorfall, in der Watzlawick den berühmten Satz geprägt hat „Man kann nicht nicht kommunizieren“ und in der wir Kommunikation und permanente Informationsverfügbarkeit leben und das Nutzen von Informationen als elementares Prinzip der Wertschöpfung zur Maxime unseres wirtschaftlichen Handelns erhoben haben.
Also wenn man seinen Beruf ernst nimmt: Meetings nicht ausfallen lassen. Das Telefon nicht klingeln lassen. Auf Mails reagieren. Einfach mal die eigene Arbeit erledigen. Das gehört nämlich in den meisten Fällen dazu.